Nach dem ersten Lesen der Worte, die auf das kleine Stückchen Papier gebracht waren, malte Stevie sich schon die komischsten Fantasien aus. Immer wieder las sie von vorne die aneinander gereihten Buchstaben und versuchte zu erraten, wer ihr diese Nachricht hinterlassen hatte. Jedoch kam sie zu keinem befriedigenden Ergebnis. Nur allein das Interesse schnell mehr zu erfahren, leitete sie aus dem Hotel heraus.
Stevie liebte Überraschungen, also ging sie auf direktem Wege aus dem Hotel. Sie bog nach rechts ab, so wie es auf dem Zettel stand und war tatsächlich abermals überrascht. Etwas weiter abseits auf einer Wiese stand Banjo und futterte seelenruhig ein paar Grashalme. Stevie schüttelte mit dem Kopf und ging auf den braunen Wallach zu. Sie streichelte ihm liebevoll über seine Mähne und entdeckte dabei einen weiteren Zettel, der am Sattel klemmte.
Schön dich auch hier begrüßen zu dürfen. Ich habe mir schon gedacht, dass du Banjo findest, denn ich weiß wie sehr du Überraschungen liebst. Wie ich dich kenne platzt du bestimmt schon vor Neugierde, aber ein bisschen gedulden musst du dich noch. Nun zum nächsten Schritt: Steig auf Banjo, reite Richtung Drovers und lass dich noch einmal überraschen.
Völlig darauf bedacht ihre Neugierde dann endlich befriedigt zu wissen, tat Stevie was ihr befohlen und ritt Richtung Drovers. Obwohl sie sich noch nicht im Klaren darüber war, wie sie denn auf diesem verlassenen Weg überrascht werden sollte. Sie grübelte wie es nun weitergehen würde. Jedoch kamen ihr immer wieder Zweifel. Nicht zu fassen, dass sie sich auf so etwas eingelassen hatte. Mitten in der Einöde. Mitten in der Dunkelheit und dann auch noch ganz allein. Als Frau. Stevie schüttelte mit dem Kopf. Die Zweifel und die Angst, die sie überkamen, konnten ihre Neugierde aber nicht so ganz verdrängen. Stevie hoffte nur, dass ihre Neugierde sie nicht in ein Verbrechen leiten würde und sie von irgendeinem Fremden überfallen und sogar umgebracht werden würde. Aber nein! Stevie verwarf diesen Gedanken sogleich wieder. Derjenige kannte sie einfach zu gut. Er kannte Banjo, ihr Pferd und er kannte Drovers.
In ihren Gedanken versunken, hatte sie überhaupt kein Zeitgefühl mehr. Erst, als das Pferd etwas mehr vor sich hintrottete, wurde ihr bewusst, dass sie schon eine ganze Weile auf dem Rücken des Wallachs saß. So gern sie sonst auch im Sattel saß, hielt sie es kaum mehr aus endlich mehr zu erfahren. Stevie wollte nun unbedingt wissen, wie es weitergeht und vor allem wo. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, dass Marcus dahinter stecken könnte. Sollte dies der Fall sein, so war sich Stevie sicher, dass sie ihm womöglich nicht noch ein Mal widerstehen könnte. Sie mochte ihn sehr und je mehr sie über ihn nachdachte, desto mehr sehnte sie sich nach Marcus. Augenblicklich erschien sein Gesicht vor ihr und sie konnte deutlich seine weichen Gesichtszüge sehen. Seine strahlenden Augen, wenn er lachte. Wie sie im Sonnenlicht ihre Farbe wechselten. Seine geschwungenen Lippen, die sich zu einer Aneinanderreihung von Buchstaben bewegen.
Stevie wunderte sich sehr über ihre eigenen Gedankengänge und Vorstellungskraft. Sie schüttelte mit dem Kopf und versuchte sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Doch auch was? Hier in dieser Gegend gab es doch nichts. Außer die vereinzelten Sträucher und Bäume an den Rändern der Straße. Doch natürlich, die gespenstische Dunkelheit. Aber was sollte sie sich schon darüber ausmalen? Wie sollte sie über diese Finsternis nachdenken, ohne wieder in eine leichte Panik zu verfallen?
Und doch wanderten ihre Gedanken schließlich wieder zu einem Mann. Sie wollte gar nicht mehr an den einen Mann denken. Doch konnte sie sich nicht mehr dagegen wehren und ihre Gedanken wanderten doch wieder zu Alex. Wieder hatte Stevie die letzen Minuten, in denen sie ihn das womöglich letzte Mal für eine sehr lange Zeit gesehen hatte, vor Augen. Sie merkte, wie sich vereinzelte Tränen aus ihren Augen auf ihr Gesicht verirrten und im nächsten Moment schämte sie sich dafür. Sie wollte ihn doch vergessen und nie wieder auch nur eine einzige Träne vergießen, wegen ihm. Warum nur brachte Alex sie immer wieder aus dem Konzept? Immer wieder stellte Stevie sich die Frage, warum Alex sie nicht aufgehalten hatte, als sie ging. Wieso er einfach nur so dastand und in die Leere starrte.
Nun sah sie etwas weiter entfernt eine Art Verkehrsschild leuchten. Sie ritt ein wenig schneller darauf zu und als sie angekommen war, musste sie schmunzeln. Nicht über das Schild, das war nur ein einfaches Verkehrsschild mit einem Pfeil, der nach links in kleinen Weg zeigte, sondern wie sie nun schon das dritte Mal überrascht wurde. Dieser kleine Weg, in den der Pfeil zeigte, war über und über mit Rosen bestreut, sodass es viel zu schade war zum drüber reiten. Links und Rechts am Rande waren versetzt kleine Fackeln in den Boden gesteckt. Stevie hatte bisher gar nicht bemerkt, wie kalt ihr vorher eigentlich war. Jetzt spürte sie die unheimliche Wärme, die mit den Fackeln aufstieg.
Stevie war sichtlich gerührt von dem Aufwand, der ihretwegen betrieben wurde. Nach ein paar Minuten kam sie auf eine kleine Anhöhe zu und sah schon von weitem, dass dort oben ein wundervoll beleuchteter Pavillon stand. Sie stieg nun von Banjo ab, band ihn rasch an einen Baum fest und ging völlig nervös mit schnellen Schritten auf die Anhöhe zu. Sie war so aufgeregt, dass sie hin und wieder über ihre eigenen Füße stolperte. Als Stevie oben auf dem kleinem Hügel angekommen war und all das aus der Nähe betrachtete, war sie nun mittlerweile das vierte Mal überrascht worden. Sie stand unmittelbar vor dem beleuchteten Pavillon. Dieser war rundherum mit kleinen bunten Laternchen behangen, die ein wenig Partystimmung vermittelten. Dies wurde allerdings durch massenweise Kerzen und Fackeln ausgeglichen. Direkt unter dem Pavillon war eine flauschige Decke ausgebreitet auf der liebevoll Obst, kleine Schnittchen, Kuchen, jede Menge Getränke und massenweise Schokolade in den verschiedensten Variationen, angerichtet worden waren. Auch hier lagen überall zur Dekoration auf der ganzen Decke Rosen und Rosenblätter verstreut. Stevie schloss die Augen und sog den wunderbaren Duft der Rosen ein, der ungemein stark in der Luft lag. Sie genoss einfach nur den Augenblick. Nun dachte sie auf einmal wieder an Alex, sie wusste nicht warum, aber irgendetwas sagte ihr, dass er die ganze Sache eingefädelt hatte.
Etwas abseits stand er, der heimliche Verehrer und beobachtete Stevie. Er sah, wie sie aus dem Staunen gar nicht mehr heraus kam. Ihre ganze Gestik und Mimik verriet, wie sehr sie sich darüber freute. Sie verriet ihm seine innigste Zuneigung zu dieser Frau. Just in diesem Moment, wie sie so dastand und sich die Hand vor den Mund hielt, ihre Augen strahlten vor Überraschung und sie sich sanft eine wild umherflatternde Strähne ihres widerspenstigen Haares hinter die Ohren klemmte, just in diesem Moment wurde ihm wieder einmal mehr klar, wie sehr er sie liebte. Wie sehr er sie verehrte, ja sogar vergötterte und wie sehr er sie brauchte. Obwohl sie nur wenige Meter von ihm entfernt stand, war sie unendlich weit weg. Er vermisste sie wahnsinnig und hatte dieses unendliche Verlangen, sie ganz fest in seine starken Arme zuschließen. Einfach nur den Duft ihrer Haare in seiner Nase einzufangen. Er sehnte sich so sehr danach in ihre bezaubernden, haselnussbraunen Augen zusehen und sich an ihrem unglaublich sexy Lächeln zu erfreuen. Es verlangte ihn so sehr sich an ihren sanften Berührungen zu verzehren, dass es ihm einen starken Stich ins Herz versetzte. Als er an ihre letzte Begegnung dachte, bei der sie ihn abwies, einfach so verschwand und ihn stehen ließ. Plötzlich war sie wieder da diese Unsicherheit und Angst, vor einer weiteren Zurückweisung. Nichtsdestotrotz er musste sich nun langsam erkenntlich zeigen. Er hatte ja nicht umsonst all die Mühe auf sich genommen. All die Zeit investiert und außerdem könnte er es nicht ertragen, sie enttäuscht zusehen. Obwohl sie auch dann wunderschön war. Ja, das war sie wahrhaftig. Er wollte nun unbedingt sehen, wie sich freute. Wie sie strahlte. Wie sie lächelte. Das Schlimmste, was ihm passieren konnte, war, dass sie ihn abweisen würde. Ihm sagen würde, dass sie ihn nicht liebte oder ihn nicht wieder sehen möchte und einfach geht. Der junge Mann schüttelte den Kopf und ermahnte sich in seinen Gedanken. Es würde schon nicht so schlimm werden. Stevie würde ihm schon nicht den Kopf abreißen. Alles Andere bekämen sie schon irgendwie hin. Schließlich war er doch Alex Ryan, in dessen Händen noch jede Frau zu Wachs geworden ist. Alex grinste bei seinen doch ziemlich überheblichen Gedankengängen. Aber so war es doch schon immer gewesen. Auch wenn er insgeheim tief in seinem Innern nicht sonderlich glücklich dabei gewesen war. Seit Claires Tod sehnte er sich eine Zeit herbei, die ihn wieder lieben und leben ließ. Er wünschte sich eine Frau an seiner Seite, die ihn verstand. Ihn unterstützte und bei der er so sein konnte, wie er nun mal war. Sich eben nicht verstellen musste. Oft genug hatte Alex gedacht, er hätte diese eine Frau gefunden und doch zerbrach wieder alles. Immer wieder stand er von neuem vor einem Scherbenhaufen, der sich nur schwer wieder zu einem ganzen Bild zusammenfügen ließ. Doch dieses Mal war er sich sicher. So sicher wie noch nie zuvor. Es fühlte sich richtig und gut an. Es war einfach perfekt. Sie war perfekt. Stevie.
Langsam und leise schlich Alex sich nun von hinten an sie heran. Hielt ihr seine Hände vor die Augen. Stevie erschrak etwas, als sie Schritte vernahm. Sie konnte den Sand, der durch das Auftreffen der Füße aufgewirbelt wurde, auf ihrer Haut spüren, je näher die Schritte kamen. Als Stevie jedoch die Berührung seiner Hände auf ihrem Gesicht fühlte, zuckte sie etwas zusammen. Sie spürte, wie ihr Herzschlag allmählich schneller und kräftiger wurde. Sie glaubte es laut schlagen zuhören. Stevie glitt mit ihren Händen über die seinen, so als würde sie ertasten wollen wer er war. Sie war völlig überwältigt von den ganzen Eindrücken und Gefühlen zuvor, sodass sie sich einfach fallen ließ. Sie wusste eigentlich schon längst wer hinter ihr stand, sie spürte es ganz deutlich. Sie befand sich in einem immensen Zwiespalt ihrer Gefühle. Sie wollte einerseits, dass es Alex war und andererseits hoffte sie, er wäre es nicht. Hatte sie sich doch fest vorgenommen, ihn zu vergessen. Nur wie sollte sie ihn vergessen, wenn er doch alles dafür tat, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen? Sie umwarb? Ihr all diese Überraschungen machte? Stevie ermahnte sich, jetzt nur nicht wieder schwach zu werden. Sie nahm also all ihren Mut zusammen, drehte sich um und sah nun direkt in seine Augen. In diese Augen, die sie all ihre Vorsätze und ihren neu gewonnen Mut vergessen ließen.