„Stevie, ist alles in Ordnung bei dir?“, drang eine vertraute Stimme durch das schwere Holz hindurch. Die Rothaarige atmete erleichtert auf, sie war froh, dass Tess nun endlich da war. Ob sie wohl auch Alex wieder mitgebracht hatte? Stevie seufzte laut und schüttelte mit dem Kopf. Selbst wenn Alex nicht in der Nähe war, so war Tess´ Besuch das Beste, was ihr an diesem Tage passieren konnte. Hatte sie sich doch schon so sehr an Tess gewöhnt und sie auch in ihrem neuen Leben als eine gute Freundin liebgewonnen. Stevie drehte den Hahn auf und erfrischte ihr Gesicht mit etwas kühlerem Wasser. Etliche Gedanken schossen ihr durch den Kopf, während es nochmals an der Türe klopfte.
„Ich bin gleich soweit“, rief sie Tess entgegen und betrachtete sich noch ein letztes Mal im Spiegel. Stevie musste sicher gehen, dass es ihr nicht anzumerken war, wie es ihr im Augenblick erging. Niemand durfte sehen, dass sie seit Minuten über der Toilettenschüssel hing und ihr Frühstück sich wieder verabschiedet hatte. Die Rothaarige strich sich mit einer Hand über das Gesicht und ließ sie anschließend durch ihr Haar streifen. Noch einmal holte sie tief Atem, ehe sie schlussendlich die Türklinke hinunter drückte und mit einem Lächeln in das Zimmer zurücktrat.
„Hey, geht es dir gut?“, fragte Tess und hatte sichtliche Sorgenfalten auf der Stirn. Stevie nickte ihr zu und lief hinüber, um sich auf die Matratze des Bettes niederzulassen. Sie seufzte auf, ließ sich anschließend auf den Rücken fallen und schloss für einen Augenblick die Augen. Es war noch nicht mal Tageshalbzeit angesagt und schon könnte Stevie sich wieder in ihr Bett hinein kuscheln und schlafen. Überhaupt könnte sie den ganzen Tag nur schlafen. Ob das wohl eine Nebenwirkung der Schwangerschaft war? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern wie es damals gewesen ist. Wie auch, wenn sie bis vor ein paar Tagen noch nicht mal ihren eigenen Namen gewusst hatte.
„Stevie, geht es dir wirklich gut?“ Tess setzte sich neben die Freundin auf das Bett und blickte besorgt auf sie hernieder.
„Hmm...“ Stevie entfuhr ein weiterer Seufzer. Sie rieb sich mit den Fingern über die Schläfen und öffnete anschließend ihre Augenlider.
„Tess, würdest du mit mir spazieren gehen?“, flehte die Rothaarige die Freundin an. „Ich brauch etwas frische Luft zum Durchatmen.“
„Aber natürlich! Wenn das dein Wunsch ist, gerne.“ Tess grinste Stevie an und nickte ihr bestätigend zu. Ihr gefiel die Wandlung ihrer Freundin. Früher war es nicht auszudenken, Stevie so ruhig und gelassen zu sehen, so ganz ohne Sorgenfalten im Gesicht. Vor ihrem Unfall wäre Stevie schon längst wieder in Zweifel verfallen und hätte sich zurückgezogen. Doch heute war das alles anders. Die Rothaarige war viel gelassener und suchte die Spaziergänge zum Nachdenken. Tess wusste, dass Stevie erst dann mit der Sprache herausrücken würde, wie es ihr tatsächlich erging.
„Aber wir sollten Alex Bescheid geben. Nicht, dass er sich wundert und eine Vermisstenanzeige aufgeben muss.“
Stevies Herz machte einen Satz, als Alex´ Name aus dem Mund der Freundin in ihre Ohren drang. Sie hatte so sehr gehofft, Alex würde ebenfalls als Besucher auf ihrer Liste stehen. Es war schon irgendwie unheimlich, dass sie jedes Mal, wenn die Rothaarige nur an ihn dachte, Schmetterlinge im Bauch hatte und enttäuscht war, wenn Alex nicht bei Tess war. Andererseits konnte sie jedoch so mit der Freundin über ihn sprechen. Zumal sie nun unbedingt von ihrer Schwangerschaft erzählen wollte. Stevie hielt es einfach nicht mehr aus, sie musste mit jemanden darüber reden und wer wäre da besser als Tess?
Die Sonne streichelte über ihre Haut, der Wind blies schwach durch ihr Haar. Stevie genoss den Spaziergang sehr. Es war ein wunderbarer Tag, dabei hatte er so furchtbar angefangen gehabt. Die dunklen Wolken jedoch verzogen sich in diesem Augenblick, in dem sie sich bei Tess untergeharkt und mit ihr losgelaufen war.
„Willst du drüber reden, was passiert ist?“, fragte Tess, da sie es nicht mehr aushielt. Nach dem verstörten Zustand von Rose schien ja einiges geschehen zu sein.
„Naja, es gab ganz schön Ärger. Diese Frau, wer immer sie auch ist, hat eine ganz schöne Abneigung gegen mich und hat mir das auch ganz ohne Umschweife vorgehalten. Sie hat mir ziemlich gemeine Dinge an den Kopf geworfen.“ Stevie seufzte laut auf. „Dabei wusste ich nicht mal, was sie eigentlich von mir wollte. Hättest du mir nicht erzählen können, dass ich eine Tochter habe? Ich war sowas von vor den Kopf gestoßen.“
„Entschuldige, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht gehabt“, gab Tess leise zu verstehen und drückte Stevie fester an sich heran.
„Schon gut, ich hab es ja überlebt. War ich wirklich so schlimm und habe meine eigene Tochter verstoßen?“
„Das hast du nicht!“ Tess schüttelte kräftig mit dem Kopf. „Du warst fünfzehn und total überfordert. Du hattest gar keine andere Möglichkeit, als Rose zu deiner Schwester zu geben.“ Stevie blieb abrupt und erschrocken zugleich stehen. Mit großen Augen blickte sie die Freundin an.
„Du meinst, dieses unmögliche Frauenzimmer ist meine Schwester gewesen?“ Ungläubig schüttelte die Rothaarige mit dem Kopf. Es war unfassbar für sie. Nicht nur, dass diese Frau, die ihr solche Worte an den Kopf geworfen hatte, so ganz anders war als sie selbst, sie sah auch vollkommen anders aus, gab sich total anders. Stevie und diese Frau waren von Grund auf vollkommen verschiedene Menschen, hatten ganz andere Lebenseinstellungen und Erwartungen von sich und ihren Mitmenschen. Wie konnte diese die Schwester der Person sein, die sie bis aufs Äußerste beleidigt und beschimpft hatte?
„Es tut mir wirklich leid, Stevie, ganz ehrlich. Ich hätte wissen müssen, dass Michelle irgendwann im Krankenhaus auftauchen würde. Aber ich hatte ja nicht ahnen können, dass sie so dermaßen bösartig ist.“ Tess machte sich die größten Vorwürfe. Sie hätte es besser wissen müssen. Aus den Erzählungen von Jodi und Kate wusste sie, dass Stevies Schwester unberechenbar ist und zu allem bereit, wenn es um das Wohl und die Gunst des Mädchens ging, die sie Jahre lang aufgezogen hatte.
„Aber...“ Stevie wollte gerade etwas erwidern, als sie wiederholt von einer Welle der Übelkeit überrollt wurde. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und lief im Eiltempo mit großen Schritten auf das nahegelegene, kleine Café zu. Etwas irritiert blickte Tess der Freundin hinterher, ehe sie sich besann und Stevie folgte.
„Stevie?“, ertönte wieder die Stimme von Tess. „Alles in Ordnung?“
Die Rothaarige seufzte. Sie hätte sich ja denken können, dass Tess ihr folgen würde. Doch es war ihr überaus peinlich, sich zu übergeben, während die Freundin direkt hinter ihr stand, nur getrennt durch das schwere Holz der Toilettentüre.
„Tess, könntest du mich einen Augenblick alleine lassen und draußen auf mich warten?“, gab Stevie zurück.
„Schon, aber...“ Tess wollte sich nicht so einfach verscheuchen lassen. Es lag nun einmal in ihrer Natur, sich Sorgen zu machen.
„Bitte, Tess!“, unterbrach die Rothaarige Tess in ihrem ansetzenden Redeschwall erneut. Stevie hörte noch, wie die Freundin ein Ok hauchte und anschließend die Tür wieder ins Schloss fiel.
Tess hatte sich vor dem kleinen Café auf eine der Bänke gesetzt, die auf der gegenüberliegenden Seite zwischen vereinzelten Bäumen standen, und wartete darauf, dass Stevie wieder herauskam. Sie verstand nicht recht, was in Stevie vor sich ging. Dabei hatte sie gedacht, die Freundin würde von nun an immer direkt zu ihr kommen, wenn sie etwas bedrückt. Tess schüttelte mit dem Kopf. Diese Sache mit Rose und Michelle war doch nun gerade erst geschehen und die ersten Gespräche darüber hatten die beiden Freundinnen auch schon geführt. Es wäre sicher noch weiter gegangen, wenn die Rothaarige nicht geradewegs auf eine der Toiletten in dem Café geflüchtet wäre. Sie sollte Stevie einfach nur ein wenig mehr Zeit geben. Tess hob ihr leicht gebräuntes Gesicht ein wenig mehr der Sonne entgegen. Es war ein angenehmer wunderbarer Vormittag. Die Temperaturen noch im absoluten Normbereich, nicht zu heiß, wurde an diesem Tag endlich der langersehnte Regen vorhergesagt. Tess seufzte vernehmlich und holte tief Atem, als sie Stevie auf sich zukommen sah. Die Rothaarige schritt auf Tess zu und setzte sich neben sie auf die Bank. Einen Moment herrschte Stille zwischen den beiden Frauen.
„Es tut mir leid, Tess. Ich wollte nicht so gemein klingen und dich vertreiben“, durchbrach Stevie die Stille und blickte zu ihrer rechten Seite hinüber.
„Es ist nur... ich... also nun ja, diese Sache da ist äußerst peinlich gewesen.“ Nun senkte Stevie wieder ihren Kopf. Es ist tatsächlich komisch gewesen. Auch wenn sie sich im Krankenhaus noch nach jemanden gesehnt hatte, der ihr beistehen würde, so war es in dem Augenblick peinlich gewesen.
„Uhm...mach dir keine Gedanken. Ich kann das verstehen, aber verrätst du mir was eigentlich wirklich los ist oder willst du nicht darüber reden?“ Tess legte Stevie eine Hand auf den bloßen Arm und blickte sie mit einem Lächeln auf den Lippen an.
„Erinnerst du dich noch an unsere erste Begegnung?“ Stevie schluckte schwer. Das würde definitiv nicht einfach werden, aber sie hatte sich Minuten zuvor gesagt, dass es von größter Wichtigkeit sei, wenigstens mit Tess darüber zu reden. Tess jedoch blickte die Rothaarige fragend an. Im Moment schien sie noch nicht so ganz aus den Worten der Freundin schlau zu werden.
„Was meinst du?“, stellte sie daher die Gegenfrage.
Stevie faltete vor lauter Nervosität ihre Hände ineinander und ließ ihre Augenlider nicht von diesen weichen. Sie atmete noch einmal tief durch, ehe sie schließlich doch ihren Blick hob und Tess ansah.
„Ich meine die erste Begegnung im Krankenhaus. Ich hatte diesen Traum und zuvor diese Erinnerungen an die Untersuchung, deine Untersuchung.“ Tess nickte Stevie zu. Sie wollte die Freundin in diesem Augenblick nicht mit irgendwelchen Fragen unterbrechen. Auch wenn es ihr regelrecht auf der Zunge kribbelte, aber diese Sache schien Stevie wichtig zu sein und ihr schwer zu fallen.
„Als ich diesen Erinnerungsflash bekommen hatte, war ich in einem der gefühlten tausend Untersuchungszimmer gewesen und hatte dieses Ultraschallgerät entdeckt und war total stolz auf mich, weil es mir eingefallen ist und ich es erkannt hatte“, fuhr Stevie fort und lächelte, als sie sich an den Moment erinnerte.
„Es war so schön zu wissen, dass ich nicht ganz so verrückt bin, wie ich vorher angenommen hatte, zumal ich mich ja an rein gar nichts erinnern konnte, noch nicht mal an meinen eigenen Namen. Ich hatte dann dort meine letzte Untersuchung gehabt, zumindest an diesem Tag. Danach war ich so geschafft und müde, dass ich sofort eingeschlafen war, als ich wieder die weiche Matratze unter mir gespürt hatte. Dieser Traum, den ich im Schlaf hatte...“ Stevie stoppte kurzzeitig und seufzte tief. Sie blickte in die Ferne und beobachtete auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Pärchen, welches vollbepackt mit Plastiktüten und Kartons zum Auto lief. Die Beiden schienen über irgendetwas heftig zu diskutieren, zumindest hatte es den Anschein.
„Ach, es ist nicht so, dass Männer und Frauen keine Freunde sein können, sondern dass du mit keiner Frau befreundet sein kannst“, sagte Stevie, während sie vollbepackt mit Schachteln und Tüten die Straße überquerte.
„Aber du schon, sehe ich das richtig?“ Alex hob eine Augenbraue an und musterte seine beste Freundin argwöhnisch.
„Oh, ich hab viele männliche Freunde.“ Stevie fiel ihm leicht ins Wort, während sie die ganzen Utensilien für Tess´ und Nicks Hochzeit ins Auto deponierte. Es war offensichtlich, dass Alex ihr diese Bemerkung unter gar keinen Umständen abnehmen würde. So war er nun einmal. Aber Stevie wollte dem nicht nachgeben und beharrte auf ihrer Meinung, genauso sehr wie Alex es tat. Sie musste ihm irgendwie beweisen, dass seine Theorie von der Freundschaft zwischen Mann und Frau absolut veraltet und ungehobelt war.
„Zum Beispiel?“, hörte die Rothaarige Alex noch fragen, dabei machte sie sich schon Gedanken darüber, wen sie als Beispiel alles aufzählen konnte. Gedanklich ging sie im Eiltempo ihre männlichen, möglichen Beispiele durch. Doch die Zeit drängte und somit fiel ihr nur ein einziger Name ein. Kevin Dyson. Es war ja nicht so, dass sie sich den Namen einfach ausgedacht hatte, Kevin war tatsächlich ein sehr guter und enger Freund gewesen und bis heute empfand Stevie ihn als einen wichtigen Part in ihrem Leben. Er hatte sie oft aufgebaut, wenn es ihr schlecht ging, weil sie sich wieder einmal mit Tracey gestritten hatte. Kevin war da, als sie weder ein noch aus wusste, nachdem ihre Eltern sie zum Teufel gejagt und ihr klargemacht hatten, sie wäre fortan nicht mehr in ihrem Hause erwünscht. Er unterstützte sie in ihrer schwersten Stunde, fand aufmunternde und ehrliche Worte, als sie sich hatte überreden lassen, Rose zu Michelle zu geben. Stevie war Kevin in so vielen Dingen dankbar. Manches Mal sehnte sie sich nach dieser Geborgenheit und den Gesprächen.
„Wahre Freundschaft hat nichts mit Zeit zu tun, Alex. Aber auch du bist ein Freund. Vielleicht.“
„ Meinst du? Donnerschlag, das ist ja ganz unglaublich. Ich meine, eben hast du noch gesagt, ich wär nicht fähig mit einer Frau befreundet zu sein.“
„Ja, aber vielleicht bin ich fähig mit dir befreundet zu sein“, konterte Stevie und zuckte mit den Schultern.
„Na, ich muss es ja nötig haben“, gab Alex grinsend zurück und provozierte damit einen erneuten Blitzschlag in seine Richtung. Innerlich feixte Alex so sehr, dass er sich wirklich wahrhaftig zusammennehmen musste, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.