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Dianchen
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Joined: Mon Dec 01, 2014 1:41 pm
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#42

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Autor: Dianchen
Hauptcharaktere: Stevie/Tess/Sam
Inhalt: Dave und Stevie - mit Chaos zum Happy End
Anmerkung 1: Vorab möchte ich ein paar Fakten erläutern
Fakt 1: 3 Jahre zuvor gab es rund um Drovers Run ein Buschfeuer, bei dem Nick und Dave und Stevies jüngstes Kind mit deren Mann (Sam´s Eltern) ihr Leben lassen mussten
Fakt 2: In der KG werden "Kinder" erwähnt, damit sind die Enkelkinder von Tess und Stevie gemeint. Die Anzahl derer überlasse ich eurer Fantasie
Fakt 3: auf Drovers wohnen nicht alle Enkelkinder mit deren Eltern, sie sind auch auf Killarney und Wilgul verteilt
Anmerkung 1: Den Titel habe ich von Bec stibitzt, fand ihn doch recht passend :)
Anmerkung 2: In Anlehnung an "Legenden der Traumzeit"
Spoiler: Nein
Chapter: 1
Geschrieben: Mai 2012
Disclaimer: Alle MLT Charaktere sind Eigentum von Nine Network, The South Australien Film Corporation and Millenium Televison. Diese Fanfic wurde lediglich zum Spaß geschrieben und nicht um damit Geld zu verdienen. Jegliche Ähnlichkeiten zu Lebenden und Toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle weiteren Charaktere sind Eigentum des Autors.

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Gebannt blickte das kleine Mädchen auf das eingefallene, wettergegerbte Gesicht ihrer Großmutter. Die kleine Sam liebte die Geschichten, die sie von ihrer Großmutter stets zu hören bekam. Jeden Tag um dieselbe Zeit, jedes Mal eine andere Geschichte. Die Sonne stand an diesem Tag um die Mittagszeit schon wieder viel zu tief am Himmel und brannte stark auf die ausgedorrte Erde hinab.
„Bitte Granny, erzähl mir von den Pferden“, flehte Sam und kletterte entschlossen auf den Schoß ihrer Granny. Stevie blickte in die großen blauen Knopfaugen ihrer Enkelin, die so erwartungsvoll zu ihr aufblickten. Ein Lächeln setzte sich auf ihren zitternden Lippen fest, während sie ihr mit der faltigen Hand über das leuchtend rote Haar strich.
„Gleich mein Schatz. Erst muss ich das hier austrinken.“
„Deine Medizin?“, fragte die Fünfjährige und beobachtete, wie ihre Großmutter mit der zitternden Hand nach dem halb vollen Whiskeyglas griff.
„Genau, meine Medizin. Lauf und hol Granny eine Flasche Wasser aus der Küche.“
Sam nickte widerwillig.
„Na gut, aber dann erzählst du mir von den Pferden, ja Granny?“
„Versprochen!“

Das kleine Mädchen kletterte von Stevies Schoß herunter und lief ins Haus hinein. Sofort griff Stevie sich an die linke Brust und versuchte tief durchzuatmen. Der Schmerz im Herzen kam in den letzten Tagen immer häufiger und stärker und sie versuchte ihn so gut es ging, zu ignorieren. Heute war das Stechen in ihrem Herzen besonders heftig, daher saß sie schon in den Vormittagsstunden mit ihrem Whiskey auf der Veranda, den sie sich sonst nur am Abend genehmigte.

„Na lässt du dich von der Kleinen wieder bedienen?“ Stevie erschrak, als sie plötzlich die Stimme von Tess vernahm.
„Pah, bedienen …“, winkte sie ab. „Ich hab es mir nur gerade erst gemütlich gemacht.“
„Du meinst wohl eher, dass du nicht mehr aus deinem Sessel hochkommst, um selbst ins Haus zu gehen.“

Tess ließ sich aufstöhnend in einen der Rattansessel sinken und rückte den Stoff ihres luftigen Kleides über ihren knochigen Knien zurecht. Stevie beobachtete die alte Freundin einen verstohlenen Augenblick lang und grinste vor sich hin. Auch mit ihren vierundsiebzig Jahren schien Tess noch immer darauf bedacht, dass sie gut aussehen und alles seine Richtigkeit haben musste.

„Was grinst du so? Musst du nicht deine Medizin trinken?“, zischte Tess und betonte dabei das Wort Medizin besonders. Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre leicht gewellten, schulterlangen weißen Haare.
„Vielleicht solltest du auch mal einen kräftigen Schluck davon nehmen, du wirkst so nervös in letzter Zeit“, entgegnete Stevie gelassen und blickte Tess noch immer grinsend an. Diese jedoch schüttelte vehement mit dem Kopf.
„Damit ich wie du in meinem Alter noch der Sucht verfalle? Nein, danke!“ Tess blickte sich verstohlen um und ließ ihre alten, müden Augen über das Land schweifen.
„Erwartest du jemanden?“ Stevie hielt noch immer das Whiskeyglas in ihren zitternden Händen. Sie liebte diese kleinen Neckereien zwischen ihnen. Das hielt sie stets davon ab, sich über ihr vorangeschrittenes Alter Gedanken zu machen und mit dem Whiskey ihrer Jugend nachzutrauern.
„Ich dachte, die Kinder wollten heute zum Essen rüberkommen“, entgegnete Tess und überhörte absichtlich den amüsierten Ton in der Stimme ihrer alten Freundin.
„Andrew hat sich für heute auch angemeldet, nicht wahr? Deswegen hältst du in der Gegend Ausschau“, kicherte Stevie. „Was findest du nur an dem klapprigen, alten Lustmolch?“
„Pah! Du bist doch nur neidisch, weil sich für dich, mit deinen sechsundsiebzig Jahren und deinen quietschenden Knochen, kein Mann mehr interessiert“, verteidigte Tess sich stolz.
„Pff…“ Stevie stellte das Whiskeyglas wieder auf den Tisch ab. „Ich habe viele Verehrer!“
Sie richtete sich in dem Korbsessel auf und straffte die Schultern.
Tess lachte laut auf. Sie lachte so herzhaft, dass ihr üppiger Busen auf und abwippte.
„Du bist noch genauso stolz wir vor vierzig Jahren. Nur dass du da noch jung und knackig warst“, gluckste Tess freudig. „Jetzt bist du nur noch und …“
„Ach halt doch die Klappe, du alte Krähe“, schimpfte Stevie und kippte den Whiskey in einem Schluck die Kehle hinunter.
Auch wenn ihr Haar längst nicht mehr die rote Lockenpracht aufwies, ihre Haut eingefallen und ledrig aussah und ihre Statur nicht mehr die einer Zwanzigjährigen war, so zog sie mit ihren sechsundsiebzig Jahren noch immer die Blicke der Männer in der Umgebung auf sich.

Tess lächelte, hob ihre sehnige Hand und legte sie auf die Schulter der alten Freundin, drückte sie fest. „Mach dir nichts draus, Stevie. Wir werden eben älter und rosten immer mehr ein, so ist das Leben nun mal.“
„Ach papperlapapp!“, widersprach Stevie energisch. „Ich bin noch lange nicht eingerostet! Immerhin schufte ich noch hart von morgens bis mittags im Gegensatz zu dir. Erst letztens habe ich bei der Schafschur mitgeholfen.“ Stevie verschränkte die Arme vor der Brust und grinste Tess selbstsicher entgegen.
„Von wegen“, protestierte sie und zog beide Augenbrauen in die Höhe. „Im Weg gestanden hast du. Kein Wunder, du kannst dich ja schließlich nicht mal mehr bücken, ohne dass deine alten Knochen knirschen.“
Stevie holte schon tief Luft, um Tess ordentlich Kontra zu geben, als das Telefon plötzlich läutete. Mühsam und mit einem jämmerlichen Aufstöhnen stemmte sie sich aus dem Korbsessel heraus und schlürfte in ihren Pantoffeln auf wackeligen Beinen in das kühle Haus hinein.

Während im Innern des Hauses Stevies Stimme am Telefon zu hören war, blickte Tess wieder auf das ruhige Land. Sie seufzte. Sie lebte nun schon so lange auf Drovers Run und war dieser Aussicht noch immer nicht müde geworden. In den Jahren nach ihrer Rückkehr nach Drovers war einiges geschehen. Die ersten Monate war die schlimmste Zeit gewesen. Für Nick und Tess war es eine Wetter- und Zeitumstellung, die sie schon kannten und somit hatten sie nicht so sehr damit zu kämpfen, wie die kleine Claire. Sie war oft krank gewesen. Ein Mal hatte es das kleine Mädchen so sehr erwischt, dass niemand wusste, ob sie überleben würde. Es war ein harter und schwieriger Kampf gewesen, doch sie hatten diesen Kampf gewonnen. Tränen der Erleichterung schlichen sich in Tess´ Augen, die sie hastig wegwischte, als sie jemanden auf die Veranda kommen hörte.

„Die Kinder kommen heute nicht zum Essen.“ Stevie kroch zurück auf die Veranda und ließ sich umständlich wieder in den Rattansessel sinken. „Der Viehtransport war zwar schon da gewesen, doch jemand hat vergessen zu erwähnen, dass die Schafe geschoren sein müssen“, kicherte Stevie. „Wie du siehst, kann das jedem passieren, nicht nur uns.“
Tess versuchte so viel Anteilnahme wie möglich aufzubringen, um sich an dem Gespräch mit Stevie zu beteiligen. Doch ihre Erinnerungen waren so heftig und plötzlich zurückgekehrt und über sie hereingebrochen, dass sie Mühe hatte, ihre Tränen zu verstecken. Verstohlen wischte Tess sich mit ihrer sehnigen Hand wiederholt über die Augen.
Stevie verstummte bei dieser Geste und blickte die alte Freundin einen Augenblick lang stumm an.
„Hab ich was verpasst?“, überlegte sie laut. In letzter Zeit kam es häufig vor, dass die Freundin in einsamen Momenten Tränen vergoss. Doch das würde sie niemals zu geben.

Tess zuckte leicht zusammen. Sie hatte kaum bemerkt, wie Stevie sie beobachtete. Sie blickte auf und versuchte jämmerlich zu lächeln. Ein leichter Wind kam auf und Tess zog ihre Jacke, die bisher locker auf ihren Schultern saß, noch ein wenig mehr zusammen. Plötzlich fröstelte sie, obwohl es nicht kühl war.
„Ich hab nur ein Sandkorn ins Auge bekommen.“ Tess blinzelte das letzte Wasser aus den Augen heraus und zuckte mit den Schultern.
Stevie nickte. Sie wusste, dass dies nicht der Grund für die Tränen der Freundin war. Jedoch ließ sie Tess in dem Glauben darüber, sie würde ihr diese kleine Schwindelei abkaufen.
„Wenn sie die Schafe noch scheren müssen, dann heißt das wohl, dass sie auch am Abend nicht zum Essen kommen werden?“, fuhr Tess unbeirrt fort.
Wieder nickte Stevie mit dem Kopf. „Sie haben Aufschub bis morgen früh bekommen.“
„Das heißt dann wohl, wir müssen die Kinder allein versorgen und irgendwie zum Schlafen bringen.“
Stevie grinste Tess an. „Was nicht unbedingt schwer werden wird. Komischerweise schaffst du es immer wieder, die Racker ruhig zu stellen.“
„Nur Sam nicht“, gab Tess schulterzuckend zurück.

Nick hatte immer einen besseren Draht zu Sam gehabt. Bei dem Gedanken an Nick wurde ihr wieder warm ums Herz. Sie dachte oft an ihren verstorbenen Mann, der viel zu früh von ihnen gegangen ist. Tess wusste, dass sie ohne Stevie nie mit dem Tod von Nick zurechtgekommen wäre. Und das, obwohl ihre alte Freundin einen viel größeren Verlust bei diesem heimtückischen Buschfeuer erlitten hatte. Gemeinsam waren sie stark, das war schon immer so gewesen, seit Stevie das erste Mal auf Drovers Run aufgetaucht war.

„Du bist eine tolle alte klapprige Oma, Tess. Vergiss das niemals. Sam ist in einem schwierigen Alter.“
Stevie merkte, dass auch Tess nicht gerade einen ihrer besten Tage hatte und somit versuchte sie, es ihrer Freundin so angenehm wie möglich zu machen. Was funktionierte da besser, als sie aufzuziehen? Das hielt sie beide fit und brachte sie stets zum Lachen. Diese kleinen Kabbeleien zwischen ihnen waren zum Alltag geworden und sie lenkten sich somit beide von ihrer Einsamkeit und ihrer Trauer ab.

„Noch lange nicht so alt wie du“, konterte Tess und richtete sich in dem Rattansessel wieder auf.
„Stimmt. Im Ausweis steht, dass du zwei Jahre jünger bist. Was für ein Unterschied“, kicherte Stevie und riss theatralisch ihre schmerzenden Arme in die Höhe.
„Wenn man uns beide betrachtet, dann sind diese zwei Jahre ein Meilenstein. Ich bin fitter wie du.“
„Beweise es!“
„Das tue ich doch jeden Tag, wenn ich die Kinder nach dem Mittag vom Bus abhole.“
Stevie lachte auf. „Was für ein Kunststück. Witzig nur, dass der Pick-up dich jedes Mal bis zur Straße bringt.“
Tess blickte Stevie aus zusammengekniffenen Augen an.
„Und wenn schon! Von alleine fährt ein Auto schließlich nicht und um das zu können, bedarf es schon einer guten geistigen Fitness, die bei einem Altersunterschied von zwei Jahren immens sein kann.“
„Aber du behauptest, du seist fitter als ich. Nur weil du jeden Tag die Auffahrt hoch und runter fährst, bedeutet das nicht, dass ich nicht fit genug bin. Lass und das testen! Wer als Erstes die Stufen der Veranda überwunden hat.“ Stevies Augen blitzten auf, sie liebte Herausforderungen.

Stevie und Tess dachten nicht mal im Traum daran, sich jemals einzugestehen, dass sie alt und gebrechlich wurden. Daher war es nicht weiter verwunderlich, dass Tess, mit demselben Funkeln in den Augen und ohne zu zögern, einwilligte. Die beiden alten Freundinnen stellten sich vor die Stufen der Veranda auf und blickten sich grinsend in die Augen. Zusammen beschritten sie die ersten Stufen, doch schon nach der vierten Stufe ging ihnen die Puste aus und sie mussten eine Pause einlegen. Sie blickten sich atemlos an und fingen aus heiterem Himmel an zu lachen. Sam kam auf die Veranda gelaufen und blickte die beiden Frauen an, die sich lachend in den Armen lagen.
„Granny erzählst du mir jetzt endlich von den Pferden?“
Sam stemmte aufgeregt die Hände in die Hüften hinein. Sie musste schon viel zu lange darauf warten und Geduld war etwas, was die Fünfjährige bei Weitem nicht besaß. Das war eine der Eigenschaften, die ihr Grandpa auch besessen hatte. Stevie lächelte traurig. Die Sehnsucht nach Dave war noch immer jeden Tag immens, so manches Mal kaum auszuhalten. Auch drei Jahre nach dem verheerenden Buschfeuer, das ihnen so viele geliebte Menschen genommen hatte, konnte Stevie nicht aufhören, um Dave zu trauern. Manchmal, wenn sie einen Moment für sich allein hatte, auf der Veranda saß und in die Ferne über das weite Land blickte, dachte sie, er würde in der nächsten Minute auf sie zu kommen und sie in seine Arme nehmen, sein Gesicht in ihrem Haar vergraben. Jedes Mal von Neuem traf es sie wie ein Messerstich mitten in die Brust, wenn sie bemerkte, dass eine Stunde vergangen war und Dave sie noch immer nicht in seine starken Arme genommen hatte.
„Bitte Granny“, holte Sam Stevie aus ihren Gedanken wieder heraus.
„Erzähl du der Kleinen die gewünschte Geschichte. Ich geh mich ein wenig hinlegen“, mischte Tess sich ein und schlürfte über die Veranda in das kühle Haus hinein.

„Na schön, ich erzähl dir von den Pferden“, lenkte Stevie nun, immer noch ein wenig außer Atem, ein. Eigentlich war sie an diesem Tag so gar nicht in der Stimmung, Geschichten von glücklichen Zeiten zu erzählen. Doch Sam schien nicht aufgeben zu wollen und bestand auf ihre tägliche Märchenstunde. Stevie seufzte und ließ sich zurück in den Rattansessel sinken, woraufhin Sam glücklich und zufrieden auf ihren Schoß kletterte. Der Stich in ihrem Herzen meldete sich schon wieder heftig. Doch wieder versuchte Stevie ihn zu ignorieren.
„Heute erzähle ich dir mal etwas von meinem allerersten Sieg beim Rodeo.“ Stevie atmete noch einmal tief durch und Sam klatschte freudig in ihre kleinen Hände. „Es war ein Tag wie beinahe jeder andere. Ich war gerade achtzehn geworden, als ich die unglaubliche Chance bekam, für das größte Gestüt in der Gegend beim Rodeo anzutreten“, begann Stevie die Reise in die Vergangenheit.
„Granny, was ist ein Gestüt?“ Sams Neugierde war vom ersten Wort an geweckt. Stevie lächelte das kleine Mädchen an und strich sich eine verirrte, weiße Strähne ihres Haares hinter die Ohren.
„Ein Gestüt ist eine Farm, die Pferde züchtet. Wenn jemand etwas von Pferden versteht, dann kann er sich einen guten Ruf in der Gegend machen. Und hat man erst einen guten Ruf, kommen das Geld und das Interesse, sich ein schönes Pferd kaufen zu wollen, von ganz allein. Man muss die Leute nur auf sich und seine Arbeit aufmerksam machen und das funktioniert ganz gut, wenn ein Rodeo gewonnen wird.“ Sam nickte, ein deutliches Zeichen dafür, dass sie verstand. „Dieses Gestüt, für das ich beim Rodeo reiten sollte, hatte diesen Ruf schon längst. Doch der Besitzer wollte noch mehr Aufmerksamkeit haben und noch viel mehr Pferde verkaufen und deshalb sollte jemand sein Pferd reiten. Leider hat der Reiter an dem Tag, an dem das Rodeo stattfinden sollte, sich seinen Fuß verstaucht und somit wurde händeringend nach einem anderen Reiter gesucht. Doch die Männer, die wirklich gut waren, traten schon für andere Gestütbesitzer an.“
Sam blickte mitfühlend zu ihrer Granny auf. Sie hatte Mitleid mit dem armen Mann, der sich an seinem Fuß wehgetan hatte. Einmal hatte sie sich ihren Fuß gebrochen, als sie die Treppe der Veranda hinuntergesprungen war. Sie wusste somit aus eigener Erfahrung, wie weh das tun konnte.
„Aber dann hast du dem Mann geholfen“, entgegnete die Fünfjährige voller Stolz.
„Ganz genau. Nur zuerst wollte der Besitzer gar nichts davon wissen. Er hatte schließlich einen guten Ruf und den wollte er nicht verlieren. Er wollte sich auch nicht lächerlich machen, denn Frauen in dem Männergeschäft gab es nur wenige und die, die es wagten, an einem Rodeo teilzunehmen, wurden ausgelacht.“ Stevie seufzte auf.
Es war eine schwere Zeit gewesen. Frauen gehörten damals einfach nicht in das Männergeschäft hinein. Doch das Schicksal hatte es gut mit ihr gemeint und ihr die Chance ihres Lebens geboten, die sie mit Freude und Können genutzt hatte. „Der Besitzer, er hieß William Thompson, weigerte sich zu glauben, dass eine Frau besser reiten kann als ein Mann. Doch da niemand mit seinem Pferd antreten konnte und er unbedingt teilnehmen wollte, ließ er sich schließlich darauf ein. Aber nur, weil dein Grandpa ihn davon überzeugt hat, dass er weit und breit keinen Mann finden würde, der schneller und anmutiger reiten kann.“

Sams Augen funkelten. Sie liebte die Geschichten, die Stevie ihr jeden Tag erzählte, aber noch viel mehr liebte sie es, etwas von ihrem Grandpa zu erfahren. Sie konnte sich nicht mehr an ihn erinnern, denn als er starb, war sie gerade mal zwei Jahre alt gewesen und trotzdem hatte sie stets das Gefühl, als wäre er noch immer da. Durch diese täglichen Geschichten blieb er lebendig, sie lernte ihn auf diese Weise immer besser kennen und liebte ihn noch viel mehr.
„Hast du Grandpa dort schon lieb gehabt?“, fragte Sam neugierig und wartete gespannt auf die Antwort ihrer Granny.
„Ich konnte das Gefühl damals nicht richtig zu ordnen, aber vermutlich hast du recht, Sam. Ich hab deinen Grandpa dort schon lieb gehabt, weil ich ohne ihn an diesem Tag niemals hätte an dem Rodeo teilnehmen können“, lächelte Stevie. Sie spürte wieder dieses entsetzliche Ziehen in der Brust, in ihrem Herzen. Doch auch dieses Mal ignorierte sie ihn, als wäre er gar nicht vorhanden. „Ich saß also hoch oben auf dem schönsten Pferd, das ich jemals gesehen hatte und wartete ungeduldig darauf, dass ich endlich reiten konnte“, fuhr Stevie unbeirrt der stechenden Schmerzen fort.
„Warst du aufgeregt, Granny?“, wollte Sam wissen und nestelte an einem der Knöpfe von Stevies Bluse.
„Natürlich war ich aufgeregt, sehr sogar. Ich hatte große Angst, zu versagen. Aber ich wollte den Männern und vor allem William Thompson beweisen, wie gut ich bin. Beinahe hätte ich jedoch vor Angst alles hingeschmissen. Doch als ich das Lächeln deines Grandpa gesehen habe, war die ganze Angst plötzlich verschwunden.“ Stevie machte eine kurze Pause, schloss die Augen und tauchte vollkommen in der Reise in die Vergangenheit ein.
*****
Ein Raunen ging durch die Zuschauermenge und für einen kurzen Moment hörte man nichts mehr, jeder der Anwesenden hielt den Atem an. Alle Augenpaare waren ausnahmslos auf den braunen Wallach und seinen Reiter gerichtet, dessen Hufe sich flink über die staubig trockene Erde bewegten. Pferd und Reiter schienen eine Einheit zu sein, als wären sie füreinander geschaffen. Mit einer Leichtigkeit schwebten beide um die aufgestellten Hindernisse und in einer Rekordzeit hatten sie den Parcours zusammen bestritten. Das Adrenalin schoss in einem rauschenden Strom durch ihren Körper und der Atem ging stoßweise, als Pferd und Reiter wieder zum Stehen kamen. Ein seichtes Lächeln hing auf ihren Lippen, die Hitze der Anstrengung überflutete ihren bebenden Körper.

Auch wenn Stevie Hall noch nie an einem Wettkampf teilgenommen hatte, war sie sich der Auswirkungen über diesen offensichtlichen Sieg bewusst. Nun würden ihr alle Türen offenstehen, die es galt zu öffnen, um sich einen Ruf in dem Männergeschäft des Rodeos zu machen. Ihr Blick glitt über die Zuschauermenge, denen noch immer der Atem stockte. Stumm lauschten sie der Stimme, die nun blechern aus den Lautsprechern trällerte und ihre Zeit bekannt gab. Noch während die Stimme aus den Lautsprechern tönte, hatte Stevie sich aus dem Sattel geschwungen und lief unter Glückwunschbekundungen und anerkennendem Nicken ihrer männlichen Mitstreiter direkt auf den Mann zu, dem sie all das zu verdanken hatte. Dave Brewer.

In einer Sekunde der Schwäche und noch immer im Rausch des Adrenalins schlang Stevie ihre Arme um seinen Hals und drückte ihren Mund fest auf seine Lippen. Sie liebte das Reiten auf dem Rücken eines Pferdes, wie sie nichts anderes auf der Welt liebte. Das hatte sie zumindest bisher geglaubt. Noch viel aufregender und erfüllender schien das berauschende Gefühl, welches sie nun mit sich riss. In ihrem Bauch schienen plötzlich Millionen Schmetterlinge zum Leben erweckt. Sie fühlte, wie sich ihr Nacken immer mehr verspannte und das Herz kräftig und laut gegen die Rippen schlug. Stevie hatte in ihrem Leben schon viele Male einen Jungen geküsst, das war nichts Neues für sie. Doch noch nie zuvor stand ihr gesamter Körper in Flammen. Ein Brand, den sie wohl nie wieder von allein löschen konnte. Als sich ihre Lippen von seinen trennten, schien die Zeit stehen geblieben zu sein.

Ihr Blut noch immer auf dem Siedepunkt spürte Stevie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter, die von William Thompson. Dieser konnte sein Glück kaum fassen und strahlte über das ganze faltige Gesicht. Mit stolzgeschwellter Brust und mit zittrigen Händen nahm er wenige Minuten später den Silber funkelnden Pokal entgegen. Noch nie hatte eine Frau bei einem Rodeo gewonnen. Es war das erste Turnier, aber noch lange nicht das Letzte gewesen.
*****
„Granny erzählst du mir noch etwas von Grandpa?“ Sam brannte darauf, mehr von diesem Tag zu erfahren, an dem sich ihre Großeltern kennengelernt hatten.
„Was willst du wissen?“, fragte Stevie und öffnete lächelnd ihre Augen. Sie hob ihre Hand und strich behutsam über dieselben widerspenstigen Haare ihrer Enkelin, die auch sie einst besessen hatte.
„Konnte Grandpa genauso gut reiten wie du?“
Stevie lachte auf. „Dein Grandpa konnte überhaupt nicht reiten. Er liebte die Pferde genauso sehr wie ich, aber nur aus der Ferne. Er hatte viel zu viel Angst vor ihnen.“
Sam hielt sich eine Hand vor den Mund und kicherte. „Die tun doch gar nichts“, gluckste sie freudig.
„Das stimmt, wenn man sie nicht ärgert, dann sind sie der beste Freund, den man sich wünschen kann.“ Sam nickte.

Sie hatte auch so einen Freund gefunden. Moonlight war schwarz wie die Nacht und unterschied sich von den anderen Pferden, die sie auf Drovers hatten. Doch Sam liebte die Stute sehr. Plötzlich verspürte sie den unbändigen Drang, sich auf den Rücken des Pferdes zu begeben und auszureiten.
„Granny können wir zu Moonlight gehen und ausreiten?“ Stevie schüttelte mit dem Kopf. „Biiitte“, bettelte die Fünfjährige weiter. Sie wusste, wenn sie lange genug auf Stevie einredete, dann bekam sie ihren Willen, so war es schon immer gewesen. Sie musste nur mit ihren blauen Augen betteln und ein paar Tränchen vergießen. Doch dieses eine Mal blieb Stevie hart.
„Du weißt doch Sam, nicht vor dem Mittagsschlaf.“
„Darf ich wenigstens zu ihr gehen?“
„Na schön“, gab Stevie nach.
Sam klatschte freudig in die Hände und kletterte von Stevies Schoß hinunter. Sie blieb stehen und blicke ihre Granny mit großen Augen an. Sie wartete darauf, dass diese sich erhob.
„Komm“, sagte sie entschlossen und griff nach Stevies Hand. Doch Stevie schüttelte wieder mit dem Kopf. Sie fühlte sich viel zu schwach, um mit Sam den weiten Weg bis zu den Stallungen zu laufen.
„Gib Granny einen Kuss und geh schon mal vor. Ich komm gleich nach.“ Sam ließ sich auf den Vorschlag ein und drückte Stevie einen schmatzenden Kuss auf ihre faltige Wange. Dann schlenderte sie hinüber zu den Stallungen. Stevie blickte ihrem kleinen Wirbelwind lächelnd nach, bis sie hinter den massiven Eukalyptusbäumen nicht mehr zu sehen war. Sie griff nach der Whiskeyflasche und goss sich das leere Glas wieder voll. Der Schmerz in ihrem Herzen war in den letzten Minuten der Erinnerung an Dave beinahe unerträglich geworden. Sie wollte ihn nur ein wenig mehr betäuben, dann würde sie Sam zu den Pferden folgen. In einem Schluck kippte sie das widerliche Gesöff hinunter. Nur noch ein Mal für einen kurzen Moment an den Tag zurückkehren, der ihr Leben für immer verändert hatte, dachte sie und schloss die Augen.

Nie in ihrem Leben war sie ihrem Traum so nahe gewesen wie an diesem Tag. Doch etwas in ihr hatte sich verändert, ihre Sicht auf den Traum von Glück und vollkommener Erfüllung hatte sich verändert. Seit sie das schalkhafte Lächeln dieses blonden Fremden gesehen und nur wenige Augenblicke später seine warmen, weichen Lippen auf ihrem Mund gespürt hatte. Er hatte sie mit seinem Charme, mit seinem Aussehen und mit seinem verschmitzten Lächeln schier umgeworfen. Ein Lächeln umspielte nun ihre Lippen und der Wind ließ den Klang ihres Namens durch die Atmosphäre schweben, trug ihn zu ihr herüber. Langsam und träge öffneten sich Stevies Lider. Die Stimme, die sie seit ihrem achtzehnten Lebensjahr begleitet hatte, war viel zu real.

Stevie war sich bewusst, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit darstellen musste, der Klang von Daves Stimme konnte nur eine Illusion ihrer Fantasie sein. Dennoch hörte sie ihn laut und deutlich ihren Namen sagen, immer und immer wieder. Plötzlich fühlte sie sich von all ihrer Trauer und Sehnsucht befreit. Dieselbe vollkommene Erfüllung und dasselbe unendliche Glücksgefühl wie vor achtundfünfzig Jahren überkamen sie. Sie wusste, dass Dave sie nun zu sich holen würde und es machte ihr keine Angst mehr.

Stevie blickte noch ein letztes Mal über die unendlichen Weiten von Drovers Run und schloss zufrieden und glücklich ihre müden Augen. Sie konnte Dave nun deutlich sehen, nach seiner Hand tasten.
„Dave“, wisperte sie. Er führte sie immer weiter der strahlend hellen Sonne entgegen und Stevie konnte sich dem Wunsch, ihm wieder nah zu sein, nicht mehr entziehen.
~~~ The End ~~~
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