„Hast du Alex erreicht?“ Tess sah mit geröteten, brennenden Augen auf und nickte stumm. Was sollte sie auch sagen? Im Moment waren ihre Gedanken einzig und allein bei ihrer Freundin, die mutterseelenallein in diesem kahlen, kalten Zimmer lag und sich nicht mehr rührte. Mit einem sehnsuchtsvollen und bittenden Blick sah sie auf die Türe aus mattem weißem Milchglas, welche die Aufschrift „Zutritt verboten!“ trug. Der Arzt, mit dem Regan gesprochen hatte, verwies die beiden Freundinnen wieder von der Intensivstation hinunter. So Leid ihm diese Sache auch getan haben mochte, er hatte einfach keine andere Möglichkeit. Regan und Tess waren nun einmal nicht dazu berechtigt, sich dort aufzuhalten. Er hätte ihnen gerne den Gefallen getan und sie auf der Station und somit bei der Freundin gelassen. Zumal das für die Genesung von Stevie so ungemein wichtig war. Aber Vorschrift ist nun mal Vorschrift. Auch wenn er diese in eben solchen Fällen besonders hasste.
„Gut. Wenn Alex erst einmal hier ist, dann fällt uns sicher etwas ein“, sprach Regan beruhigend weiter, da sie merkte, dass Tess nicht nach Reden war. Aber viel kam ihr auch nicht in den Sinn. Wie sollte sie ihre Cousine beruhigen, wenn sie doch selber nicht wirklich mit der Situation zu Recht kam? Sie würde genauso gerne lieber bei Stevie am Bett sitzen und ihr gut zu reden, anstatt hier auf diesem kalten Flur der Station nutzlos herumzusitzen. Das veranlasste sie nur dazu, viel zu viel über ihre momentane Beziehung zu ihren Schwestern nachzudenken und genau das wollte sie eigentlich verhindern. Bisher hatte Regan sich keine Gedanken darüber gemacht, weil sie einfach zu enttäuscht gewesen ist. Sie hatten sich seit dem Tod ihrer Eltern aus den Augen verloren. Grace und Jaz waren unterwegs, um auf dem Rücken eines Pferdes ihr Lebensglück zu finden, während sie selbst sich in ihre Arbeit gestürzt hatte. Bisher hatte sie das Umgraben von Erde und die Analysierung von Gesteinen vollkommen ausgefüllt. Bis sie nach Drovers kam. Hier hatte Regan nun etwas gefunden, das sie noch weitaus mehr auszufüllen schien. Nach dem Minenunglück suchte sie Ruhe und in gewisser Weise einen Zufluchtsort, wo sie all die schrecklichen Bilder verarbeiten und auch vergessen konnte. Anfangs war dies noch ein schwieriges Unterfangen gewesen, aber schon bald war es ihr möglich mit Hilfe ihrer Familie und auch neugewonnen Freunden die Schreckensbilder zu verarbeiten. Regan fühlte sich zunehmend wohl auf Drovers Run und konnte sich heute nicht mehr vorstellen, von hier wegzugehen. Zumindest nicht für eine längere Zeit.
„Regan?“ Regan schlug die Augenlider nieder, um so ihre seichten Tränen verschwinden zu lassen. Sekunden später öffnete sie diese wieder und blickte Tess an.
„Können wir nicht irgendetwas tun? Ich meine, wie soll Stevie denn wissen, dass wir da sind, wenn wir doch gar nicht zu ihr dürfen?“ In Tess´ Stimme schwang noch immer weinerliche Sentimentalität mit. Sie holte tief Atem und schluchzte.
„Wir könnten versuchen ihre Familie zu verständigen. Vielleicht gäbe es dann eine Möglichkeit“, gab Regan zur Antwort. Doch wusste sie, dass auch dann wenig Hoffnung bestand. Sie würden Stevie wohl erst wieder zu Gesicht bekommen, wenn sie wieder aufgewacht ist.
„Ja, vielleicht sollten wir das tun“, antwortete Tess und umschloss eisern mit ihren Händen den weißen Becher aus Styropor. Nachdenklich führte sie diesen an ihre Lippen und trank einen kräftigen Schluck daraus. Plötzlich schreckte Tess auf.
„Wir haben auf Drovers noch gar nicht Bescheid gegeben. Nick macht sich sicher schon Gedanken.“
„Beruhige dich, Tess. Alex hat die anderen sicherlich schon verständigt. Aber wenn es dir hilft, dann ruf ihn an.“ Regan lächelte ihre Cousine aufmunternd an. Diese nickte stumm und lief über den Flur zum Telefon.
Alex starrte stur geradeaus und umklammerte fest mit seinen Händen das Lenkrad seines Wagens. Es war noch nicht lange her, da hatte er genau denselben Weg zurückgelegt. Jetzt da er wusste, wo Stevie war und sich die ganze Zeit seiner Suche aufgehalten hatte, wusste er nicht, was ihm lieber war. Einerseits war er nun froh, dass Stevie aufgefunden wurde, anderseits jedoch wäre ihm die Option, Stevie nicht mehr wieder zu sehen im Moment lieber gewesen. Alex wusste nicht, wie es weitergehen würde. Ihm war nicht bewusst, wie schlimm es um Stevie stand oder ob sie jemals wieder aufwachen würde. Doch eines wusste Alex mit absoluter Gewissheit, er würde die Hoffnung, eines Tages wieder in ihre braunen Augen sehen zu können, nicht so einfach aufgeben. Etwas weiter entfernt, tief unter dem Horizont, konnte Alex nun schon die Silhouetten der Kleinstadt erkennen. Tief holte Alex Atem und stieß ihn in der nächsten Sekunde seufzend wieder aus. Er erreichte nun die Stadtgrenze. Je mehr er sich dem Krankenhaus näherte, desto unruhiger wurde es in seinem Inneren. Sein Herzschlag hatte sich seit Tess´ Anruf noch nicht zur Ruhe gesetzt. Nun aber schien es ihm, als würde sein Herz sich überschlagen. Er hatte furchtbare Angst davor, Stevie zu begegnen. Immerhin war Alex noch nie in seinem Leben in solch einer Situation gewesen. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Dennoch scheute er den Gang zum Eingang des Krankenhauses nicht. Alex betrat das riesige Gebäude und machte sich auf den Weg auf die Intensivstation. Der Fahrstuhl trug ihn in die dritte Etage hinauf. Alex blickte in beide Richtungen der Station und entdeckte schließlich Regan, die auf einem dieser Plastikstühle saß. Alex´ Weg führte ihn direkt auf die junge McLeod zu. Regan sprang aus ihrem Stuhl auf und fiel dem jungen Mann erleichtert um den Hals.
„Gott, bin ich froh, dass du da bist!“, sagte die Braunhaarige mit einem zaghaften Lächeln auf den Lippen, als sie sich wieder von Alex gelöst hatte.
„Gibt es schon Neuigkeiten?“, erwiderte Alex. Er wunderte sich, dass Regan hier im Flur saß und nicht bei Stevie am Bett.
„Nein noch immer nichts Neues.“ Regan ließ sich wieder erschöpft auf einem Stuhl nieder.
„Und Tess? Ist sie bei ihr?“ Alex setzte sich für den Moment neben Regan. Die McLeod jedoch schüttelte mit dem Kopf und seufzte tief.
„Die Ärzte lassen uns nicht zu ihr. Sie geben uns auch keine Informationen über Stevies Zustand.“ Regan zuckte mit den Schultern. „Wir sind eben nicht mit ihr verwandt.“
Ohne darauf zu reagieren, sprang Alex wieder von dem Stuhl auf und lief über den Flur zurück. Im Vorbeigehen hatte er in ein Zimmer gesehen, in dem einige Schwestern der Station saßen und sich unterhielten. Entschlossen klopft der junge Mann an den hölzernen Türrahmen und wartete auf eine Reaktion.
Regan beobachtete, wie Alex sich angeregt mit einer der Stationsschwestern unterhielt. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, dass er sich nicht so einfach abspeisen lassen würde und nicht eher Ruhe gab, bis sie wenigstens ein paar Informationen über Stevies Gesundheitszustand bekamen.
„Hören Sie...“ Alex blickte auf das kleine weiße Schildchen, das an dem Kittel der Dame baumelte und las den Namen derer darauf ab. „Miss Evans, ich kann Ihnen versichern, dass nur ich der Verlobte dieser Frau sein kann. Mir ist der Name des Herren ganz und gar nicht bekannt.“ Alex sah die blonde Frau vor sich mit einem zuckersüßen Lächeln an.
„Kann das Jemand bestätigen?“, fragte die Schwester daraufhin nur. So schnell gab sie für gewöhnlich nicht nach, aber bei diesen Augen, die sie ansahen, konnte sie schwer widerstehen. Alex legte der Dame eine Hand auf die Schulter und zeigte nickend in die Richtung, in der Regan auf einem Stuhl saß und gebannt die Szenerie beobachtete.
„Dann gibt es noch eine weitere Dame, die das bestätigen kann. Nur ist sie im Augenblick nicht in der Nähe. Und wenn sie wollen, dann gebe ich Ihnen noch weitere Telefonnummern.“ Die Schwester winkte ab und lächelte Alex an. Dann bat sie ihn, ihr zu folgen. Die beiden liefen an der verdutzt dreinschauenden Regan vorbei und verschwanden hinter der Türe zur Intensivstation.
Nicht lange nachdem Alex und die Schwester verschwunden waren, kam Tess wieder zurück. Regan blickte noch immer etwas durcheinander zu der weißen Milchglastüre.
„Alex hatte noch nicht Bescheid gegeben“, sagte Tess und ließ sich neben ihrer Cousine auf einen der Stühle nieder. Sie griff sich wieder den Becher mit dem Kaffe und trank einen weiteren Schluck daraus.
„Alex ist schon da“, antwortete Regan und drehte sich zu der Blondine herum.
„Wo ist er denn?“, fragte Tess nur und blickte sich um. Doch konnte sie ihn nirgends entdecken.
„Irgendwie hat er es geschafft, die Schwester zu überzeugen, ihn zu Stevie zu bringen.“
Tess blickte Regan mit großen Augen erstaunt an, atmete dann allerdings erleichtert aus. Sie war froh, dass Alex endlich da ist und auch schon zu Stevie gegangen war. So konnten sie wenigstens hin und wieder informiert werden und die Hoffnung wuchs wieder ins Unermessliche, dass Stevie schon bald wieder aufwachen würde.
„Das ist gut! Jetzt wird alles wieder in Ordnung kommen“, brachte Tess dann hervor und lächelte. Regan erwiderte das Lächeln der Blonden. Das erste Mal seit sie das Krankenhaus betreten hatten, sah sie einen leicht fröhlichen Gesichtsausdruck bei Tess. Das erleichterte ihr die Situation und sie schürte genau wie Tess wieder Hoffnung.